Vor wenigen Tagen hatte ich ein besonderes Erlebnis. Am Freitagabend klingelt es am Pfarrhaus. Draußen steht ein Pilger. Ein Mann mittleren Alters mit Rucksack, Stock und einem Kreuz. Er ist maronitischer Christ aus dem Libanon. In gebrochenem Deutsch, Französisch und Englisch unterhalten wir uns. Beinahe durch ganz Deutschland ist er gewandert, von Kirche zu Kirche, seit vielen Wochen. Sein Pilgerpass ist voll von Stempeln, Unterschriften und Grüßen in allen Sprachen. Er war in katholischen, lutherischen und orthodoxen Kirchen. In Frankfurt am Main hat ihm ein koptischer Bischof ein Holzkreuz geschenkt, das er mir freudig zeigt. In Marburg war er in der Elisabethkirche, in der ich als Studentin gearbeitet habe. In seinem Büchlein entdecke ich den Namen eines evangelischen Kollegen hier aus dem Süden. In Rom hat er auch etwas Theologie studiert, erzählt er mir. Und ich erfahre von seiner Familie im Norden des Libanon. Ich erzähle ihm, dass ich dort schon einmal war, in einem maronitischen Kloster in den Bergen. Natürlich kennt er es.
Ich bin erstaunt und berührt, wie viele Anknüpfungspunkte wir in wenigen Minuten finden. In diesem Mann und seinem Pilgerbuch begegnet mir beinahe die ganze Christenheit in all ihrer Buntheit und Vielfalt. Und ich spüre plötzlich eine große Verbundenheit mit all diesen Menschen und Kirchen, mit den Schwestern und Brüdern im Glauben.
Was ihn auf seinem Pilgerweg bewegt, warum er ihn geht, über was er nachdenkt, erfahre ich nicht. Ist es der Dank für eine überwundene Krankheit? Möchte er Gott näherkommen? Sucht er einen Weg für sein Leben? Auf eine Art sind wir alle Pilger auf unserem Lebensweg. Mit Sehnsucht nach Gott, nach gelungenem Leben, nach Liebe, nach Glück, nach Zufriedenheit. Doch wenige machen sich wirklich auf den Weg und kommen in Bewegung. Meist bügelt der Alltagstrott die Sehnsucht weg. Dabei ist gerade die Sehnsucht ein wichtiger Hinweis auf das Ziel, für das es sich lohnt, sich aufzumachen.
Am nächsten Morgen zieht der Pilger weiter. Wir gehen zusammen in die Kirche. Er wünscht sich, dass ich für ihn und seine Familie bete. Er selbst betet für meine Familie und für die Gemeinde. Die Kirche ist schon für den Gottesdienst gerichtet. Er sieht die markierten Plätze. Corona und die Pandemie - darüber haben wir gar nicht geredet. Es war in diesem Augenblick nicht wichtig. Am Ende winken wir uns zu. Er zieht weiter. In meiner Hand habe ich seine email-Adresse. Wenn ich wieder in den Libanon komme, soll ich ihn besuchen, sagt er. Er meint es ernst. Und das Gefühl, beschenkt worden zu sein, klingt noch lange in mir nach.
Foto: epd bild/Neetz
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